Eine Theorie der Lebkuchen
Als ich klein war, wussten meine Geschwister und ich kaum was Coca-Cola war. Limonade kannten wir dagegen natürlich und teilten wir diese gerecht, wenn wir eine Flasche Limo bekamen. Wir folgten der Regel ”du teilst, ich wähle”. Dieses Prinzip galt auch, wenn wir z.B. Kuchen teilten. Derjenige, der den Kuchen teilte, wählte als letzter. Manchmal verwendeten wir sogar ein Maßband – darüber lachen wir heute noch. Das zeigte allerdings, dass wir gerechtes Teilen sehr ernst nahmen!
Viel später besuchte ich einen Kurs, in dem das Buch ”Eine Theorie der Gerechtigkeit” von John Rawls als Lerngrundlage diente. Rawls ist im Bereich der politischen Philosophie sehr renommiert. Das Buch ist so dick und schwierig, dass ich weder zeitlich noch willentlich das ganze Buch las. Seine Grundidee war jedoch ein Gedankenexperiment, das an meine Kindheitserinnerung mit dem Kuchen-Teilen erinnert.
Stell dir vor, eine Gruppe von Personen ist für die gesellschaftliche Ordnung verantwortlich. Die Voraussetzung ist, dass alle Personen in der Gruppe Experten auf ihrem Gebiet sind, aber keine Information darüber haben, wo sie selbst in der Gesellschaft landen sollen. Sie wissen nicht, ob sie als reich oder arm, als Mann, Frau, alt, jung, intelligent oder... eingeordnet werden, genau wie wir alle. Das soll die Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen. Wie sollen sie bestimmen, wie die Gesellschaft geordnet wird? Ich werde hier jetzt nicht ”spoilern” und das spannende Ende verraten (für dessen Ausführung der Autor mehr als 600 Seiten brauchte). Das Buch, welches nun seit mehr als 40 Jahren von Philosophen diskutiert wird, zeigt schlichtweg, dass auch Rawls Gerechtigkeit äußerst ernst nahm.
Ich frage mich, ob Kinder und Jugendliche auch heutzutage Dinge noch so teilen, wie wir es früher taten, oder ob sie neue Verteilungsprinzipien erfunden haben. Vielleicht bekommt nun der mit den meisten Likes auf Facebook den größeren Anteil. Oder einer nach dem anderen wird rausgewählt, wie in verschiedenen Fernsehformaten. Das hoffe ich nicht. Wir Erwachsenen sind diejenigen, die den Kindern zeigen, was Gerechtigkeit in der Praxis bedeutet. Man kann dazu das gemeinsame Backen als Anlass nehmen, um ein konkretes Beispiel zu nennen. Auf der mehligen Backfläche kann man ”produktive Gerechtigkeit” sehr gut veranschaulichen. Wenn die Kekse dann verziert werden und gut duftend vor einem liegen, kann man daran ”distributive Gerechtigkeit” verbildlichen.
Denn, wer will freiwillig das kleinste Stück vom Kuchen? Vor allem dann, wenn man am meisten dafür gearbeitet hat... Vielleicht ist es an der Zeit ”Eine Theorie der Lebkuchen” zu schreiben.